Mich hat es weiter gen Norden verschlagen. Drei Stunden von Matagalpa entfernt sind wir in einer weniger touristischen und angenehm kühlen Region gelandet. Die Straße hat sich in eine Schotterpiste verwandelt. Den Tipp habe ich von Romina, die ich in Tegucigalpa getroffen habe, aufgeschnappt, und ich bin ihr unendlich dankbar dafür. Eine Farm, betrieben von einer nicaraguanischen Familie, mitten im Nirgendwo, umgeben von Natur und unglaublichem Dschungel. Einfache Unterbringung, viele Tiere, Melken und Käsemachen. Das klang genau nach meinem Geschmack!
Auf der Reisekarte seitdem nur ein Kreuz, bezeichnet mit „Käsefamilie“, füllt sich der Ort nun mit Leben. Und zwei Herzen schlagen in meiner Brust, über dieses Highlight meiner Reise zu berichten und anderen zu empfehlen. Denn den Reiz des Ortes macht zum großen Teil die Abgeschiedenheit und das Nichtvorhandensein der üblichen Backpacker-Party-Horde auf dem Gringotrail aus, denen die Freundlichkeit und unverdorbene Neugier der Dorfbewohner zu verdanken ist. Statt unverfrorener Blicke und endloser, nervtötender Pfeiftiraden und Küsschenschmatzerei, begleitet von „Hey Guapa“, erntet man hier noch schüchterne Blicke und ein einfaches „Buenas“ oder „Hola“. Nur die ganz Verwegenen wagen es, uns aus dem Autofenster zuzuwinken – und auch das wirkt eher niedlich als belästigend.
Hierher zu gelangen war überraschend einfach, mit dem Bus aus Matagalpa in Richtung El Cuá sind es etwa drei Stunden bis zum Peñas Blancas Massiv, das man im Bus einfach als Zielort beim Ayudante angibt. Als wir in Peñas Blancas auf dem Bus steigen, werden wir von einem atemberaubenden Panorama empfangen. Direkt vor uns das eindrucksvolle, gleichnamige Bergmassiv eingerahmt von saftigen grünen Tälern. Es ist hier vergleichsweise kühl und so ist es auch kein Problem, den Rucksack in einem kurzen Fußmarsch einen Schotterweg entlang bis zu unserer Unterkunft zu tragen. Etwas weiter im Dorf gibt es weitere Unterkünfte und augenscheinliche Aktivitäten das Angebot auszuweiten.
Unser Gastgeber, Don Chico, ist ein rüstiger Mann. Im stolzen Alter von 77 Jahren hat er das Hostel, seine Farm mit Hühnern, Gänsen, Kühen – und seiner großen Familie – voll im Griff, ist als Führer für die Klettertouren im Bergmassiv aktiv und ganz nebenbei auch ein Musiktalent. Mit Selbstverständlichkeit werden wir in die Familie integriert, und für den nächsten Morgen zum Kühe melken und Käse machen eingeladen.
Gerüchteweise soll es in Deutschland ja tatsächlich Kinder geben, die glauben, Kühe wären lila. Zu dieser Gruppe gehöre ich zwar nicht, aber richtig auf dem Land bin ich auch nicht aufgewachsen. So lerne ich einiges über Kühe, als ich am nächsten Morgen um halb sieben noch etwas schlaftrunken zusehe, wie selbige zum Melken eingetrieben werden. Don Chico hat derzeit 10 Milchkühe, die etwa 70 Liter täglich geben. 40 davon nutzt die Familie, es muss schließlich auch genug für die Kälbchen bleiben, denn für die ist die Milch ja eigentlich gedacht. Etwa ein halbes Jahr nach dem Kalben gibt eine Kuh Milch. Die Tragezeit beträgt neun Monate und nach drei Monaten können Sie wieder gedeckt werden. Macht also 6 Monate im Jahr Milch.
Die zwei Söhne von Don Chico zeigen uns wie das mit dem Melken geht: Hinterbeine zusammengebunden, Eimer in Position gebracht und schon kanns losgehen. In Windeseile füllen sich die Eimer, so dass er bald einem Schaumbad gleicht. Und auch die Kleinsten wissen schon wie es geht, daneben komme ich mir ein bisschen grobmotorisch vor. Aber immerhin schaffe ich es dem Euter Milch zu entlocken. Bei meinem Tempo müssten wir alle verhungern, also gebe ich lieber wieder an die Profis ab…
Und nach dem Frühstück wird dann Käse gemacht! In Nicaragua unterscheidet man zwischen „queso“ und „cuajada“. Letzterer ist weicher und weniger lange haltbar und diesen stellen wir nun in einem Verschlag neben der Küche her. Die mit Lab versetzte Milch braucht 20 Minuten, um sich in Wasser und die festen Bestandteile zu trennen. Dann kann der Käse vorsichtig mit den Händen ausgepresst werden. Die Klumpen lassen wir noch ein wenig abtropfen und drehen sie dann durch den Fleischwolf. Nun noch salzen, vermengen und zu Laibchen formen. Fertig, das Leben kann so einfach sein!!
Am Abend wird nach einem „Cena tipico“, bestehend aus Gallo Pinto, gekochter Yucca, Tostones, Salat und Fleischspießen, und natürlich „meinem“ guajada, Musik gemacht. Don Chico holt sein Akkordeon raus und spielt, trotz seines von der Machete verletzten Fingers, nicaraguanische Polken für uns. Er hat es sich selbst beigebracht, einfach von Zuhören und Ausprobieren. Natürlich muss ich auch mal ran und nachdem ich erwähne, dass ich Gitarre spielen kann, wird auch diese noch hervorgekramt. Ein durch und durch musikalischer Abend, denn auch die Mandoline, Flöte und Mundharmonika beherrscht der talentierte Gastgeber, beeindruckend!
Der nächste Tag beginnt früh, wir wollen auf das Massiv wandern. Wie befürchtet, läuft uns Don Chico mit seinen 77 Jahren und in seinen Gummistiefeln schon auf den ersten Metern wie ein junges Reh davon. Zuerst müssen wir uns den Weg durch den dichten Dschungel, um die vom vielen Regen der letzten Nacht geplatzten Wasserleitung, die Wassermassen wild wirbelnd in der Gegend verspritzt, herum bahnen. Aber das bewahrt uns auch nicht davor, innerhalb weniger Minuten klatschnass zu sein. Leichter Nieselregen, hohe Luftfeuchte und letztendlich der stetig aufwärts gerichtete Pfad zeigen entsprechende Wirkung. Wir bahnen uns den Weg durch Sekundär- und Primärwald bis hoch in den unberührten Nebelwald. Don Chico hat wie ein kleiner Junge einen Heidenspaß daran, sich hinter gigantischen Blättern zu verstecken, so dass nur noch ein Kopf herausguckt, an Lianen hochzuklettern oder uns auf die „planta amorada“ hinzuweisen, die am Stengel eine Verdickung aufweist, die den Schamlippen einer Frau verblüffend ähnlich ist.
Er kennt die Region seit er ein kleiner Junge ist, zeigt uns Bäume, deren Rinde man gegen Malaria, Übelkeit oder Bauchschmerzen einsetzt. Das Plateau erreichen wir auf direktem Weg nach oben, was eine ordentliche Kletterei bedeutet. Und als wir endlich oben zwischen den Aussichtspunkten, Wasserfällen, Lagunen herumspazieren, findet er frische Jaguarspuren, Jaguar-Kot mit Faultierfell (die letzte Mahlzeit), weist uns auf Pilze, Orchideen und Vogellaute hin. Und wir haben Glück, ganz oben vernehmen wir das markante Pfeifen von mehreren Quetzals. Den Nationalvogel Guatemalas habe ich bisher leider nicht zu Gesicht bekommen, und jetzt, in Nicaragua, klappt es endlich. Etwa eine halbe Stunde folgen wir den Lauten, laufen vor und zurück, erklimmen Hügel, stromern durch Gebüsch, und tatsächlich sehen wir den schönen Vogel mehrere Male dicht an uns vorbeifliegen. Für ein Foto reicht es leider nicht. Und während wir nach über vier Stunden mit letzten Kräften den Abstieg mehr rutschend als kletternd zurücklegen, schwebt unser Führer fast elfengleich herab und wartet hier und da, schalkhaft lachend bis amüsiert auf uns.
Auf die Frage, wie es ihm geht, antwortet Don Chico am nächsten Morgen fröhlich: „Como el amanecer!“ („Wie der Sonnenaufgang“), verkündet, dass er nach unserem Ausflug noch einen Spaziergang durch seine Kaffeeplantage im Tal gemacht hat. Dann spielt er uns gutgelaunt ein Lied auf der Flöte vor.